Kunstgeschichte

Das Mass aller Dinge (VL AD/TK)

Dienstag, 03.12.2024

Masse ordnen, regeln und klassifizieren unsere Beziehung zu Dingen und Räumen. Besonders der menschliche Körper ist eine wichtige Bezugsgrösse für die Herleitung von Massen: Während der «Fuss» für die topographisch-räumliche Vermessung Verwendung fand, fungierte die «Elle» für die Vermessung von Tuch. Beide Masse beruhen dabei auf Bewegungsabläufen; Massnehmen wird zum körperlichen Akt. Bis in die frühe Neuzeit wurden Elle und Fuss für einen bestimmten Ort als verbindlich festgesetzt («Nürnberger Fuss»). Die Angaben wurden im öffentlichen Raum «als Mass aller Dinge» materialisiert, eingeritzt in einer Wand oder als Mass-«Objekte» aufgehängt. In Bern wurden die gängigen Masse beispielsweise seit Mitte des 17. Jahrhunderts im Durchgang der Zytglogge «publiziert». Die Orts- und Sprachgebundenheit von Masseinheiten führte über die Jahrhunderte zu einer unglaublichen Vielfalt, und auch zu einem Durcheinander,lang bevor mit dem «Urmeter» Ende des 18. Jahrhunderts eine länderübergreifende Normierung einsetzte. Welche Bedeutungen haben Massen in der Kunstgeschichte, insbesondere der Architektur- und Textilgeschichte? Die Vorlesung geht dieser Frage aus unterschiedlichsten Perspektiven nach. Die in den Traktaten von Vitruv, dem allerersten (überlieferten) Architekturtheoretiker, festgehaltene Proportionslehre bestimmt das harmonische Verhältnis von Basis, Schaft und Kapitell einer Säule, abgeleitet von den Körpern eines Mannes, einer Frau und eines jungen Mädchens. Für den Handel mit mittelalterlichen Seidenstoffen stellt sich die Frage, wie Masse in unterschiedlichen Sprachen kommuniziert wurden, als Kommunikationsmittel, die auch Konfliktpotenzial bergen. Denn: Die Einheiten S, M, L, XL sind nicht nur Konfektionsgrössen der Mode, sondern nach Rem Kolhaas auch ein Skalierungsprinzip für zeitgenössische Architektur. Für einige zentrale Objektgruppen sind die wechselseitige Perspektivierung durch die Architekturgeschichte und die Textilgeschichte unentbehrlich: für konkrete räumliche Situationen massgefertigte Tapisserien, «soft architecture» wie Zelte und Baldachine, oder Puppenhäuser (z.B. Stromersches Puppenhaus von 1639 oder Barbies Dreamhouse von 1956. Schliesslich gilt es fortlaufend zu fragen: Wer legt den Massstab fest und für wen gilt dieser? Was heute «Norm» ist, ist vielleicht morgen schon passé. Die Vorlesung lotet daher das Spannungsfeld zwischen Vielfalt und Einheit, Normierung und Standardisierung aus und beschäftigt sich mit Fallbeispielen vom Mittelalter bis in die Gegenwart, vom Nilometer in Kairo (8. Jahrhundert) bis zu Webskulpturen von Magdalena Abakanowicz (1930-2017).

Veranstaltungsart:Vorlesung/Seminar
Dozierende(r): Prof. L. Hindelang/Prof. C. Mühlemann
03.12.2024:16:15 - 17:45
Ort: Hauptgebäude
Hochschulstrasse 4
3012 Bern
2. Etage, HR 201

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